'Mission Klassenerhalt' (III) - Im Fanzug zum BFC Dynamo
Es gibt ein Stadion im Leipziger Nordwesten, da scheint die Zeit stehengeblieben, Vergangenheit gegenwärtig zu sein. 1964 wurde hier - im Leutzscher Holz - die BSG Chemie Leipzig völlig unerwartet DDR-Meister. Später spielte der Verein meistens in der zweiten Liga, Staffel C, bis er irgendwann ganz verschwand. Ein paar Unermüdliche fingen - zu Beginn des neuen Jahrtausend - in der 12. Liga wieder neu an. Jahr um Jahr ist 'Chemie' seitdem aufgestiegen, spielt nun in der Regionalliga Nordost. Muss sich dort mit dem 1. FC Lok Leipzig, Energie Cottbus und dem BFC Dynamo messen. Partien mit einiger Brisanz. In 'Mission Klassenerhalt' begleiten wir die Mannschaft durch die Saison.
von Fritz Rainer Polter
12. Ligaspiel + BFC Dynamo - Chemie Leipzig 3:0 + Platz 15 (von 18) mit elf Punkten
Auf dem Hauptbahnhof Leipzig versammeln sich die Chemiker ab 8.30 Uhr auf dem Querbahnsteig vor dem Bahngleis 11, wo der von den Chemie-Fanclubs selbstorganisierte Sonderzug zum Gesundbrunnen bereitstehen soll. Tut er nicht, und als der zirka eine halbe Stunde verspätet einrollt, fehlen zwei der angedachten sieben Hänger. Die Gründe dafür bleiben unklar, einige munkeln von einem Rangier-Versagen der Bundesbahn, andere wiederum wollen dies nicht glauben, und mutmaßen, die zwei Hänger wären wohl von uns nicht bezahlt worden. Wie auch immer, leiden müssen die Fans, welche wie Sardinen in der Büchse zusammengedrängt werden. Sitzplätze gibt es nur für zirka die Hälfte der 850 Reisenden in Grün/Weiß, die andere Hälfte muss in die Gängen sehen, wie sie die zirka zweieinhalb Stunden lange Fahrt übersteht.
Und das wird schwierig. Es wird reichlich Bier konsumiert, und schon bald bilden sich bis tief in die Hänger reichende Schlangen an den Toiletten mit Wartezeiten bis zu 30 Minuten. Schon bald halten es einige nicht mehr aus und nutzen, sagen wir: durchlässige, durch Licht zu erspähende Vakanzen in den kleinen Übergängen zwischen den Hängern. Auch dafür muss man lange anstehen. An den offen Notdürftig-Vollziehenden vorbei passieren nun die mit Sandwichs und Bockwurst ausgestatten Fans, Männer wie Frauen, welche die Wartezeit an den Versorgungständen ausgestanden haben. Eklig, doch Not kennt wenig Gebot. Und es wird zünftig und ohne Rücksicht überall geraucht, sodass Nichtraucher mit Atemschwäche wie ich unsagbar leiden. Allerdings sind die Zwischenabteile mit den Raucherinseln wie überhaupt der gesamte Zug hoffnungslos überfüllt. Die Raucher haben also gar keine andere Option.
Schlimm, dass es in Deutschland noch so viele Raucher gibt. Ich behelfe mich mit hochprozentigen Sachen und öffne meinen Tetra Pak, angefüllt mit 1,5 Prozent fetthaltiger, laktosefreier Milch, was von den Alkoholkonsumierenden um mich herum, sagen wir: durchaus beachtet, und kontrovers kommentiert wird. Ich stehe allein und ohne jede Kommunikation in einer Ecke eines Zwischenabteils, gestützt von einem metallenen Abfallbehälter unter einem Fenster. Zum Glück möchte diesen niemand nutzen. Oder sagen wir, keiner sieht ihn mehr, da ich ihn halb sitzend, halb lehnend, okkupierte. So muss ich nicht wenigstens andauernd auf den Durchgangsverkehr reagieren, wie all jene, die auf den Treppen der Aufgänge oder im Gang sitzen. Durch die verzögerte Abfahrt kommt es immer wieder zu Wartezeiten an den Signalen. Oft hat man sogar den Eindruck, jetzt ginge es wieder zurück. Oder nach Berlin über Cottbus.Am Gesundbrunnen werden wir von der Berliner Polizei in Empfang und Begleitschutz genommen. Vom S-Bahnhof in Wedding laufen wir über eine geschichtsrächtig wirkende Eisenbrücke, passieren die ehemalige Grenze zur ehemaligen Ostzone und weiter geht es durch Nebenstrassen in Richtung Vinetastrasse. Vorbei an Pankow über Weißensee auf die Berliner Strasse zum Stadion des BFC Dynamo, dem Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in der Steffenstrasse, Gästeeingang: Eberswalder Str./ Topsstrasse. Unser Anmarsch ist für Fußballfans vergleichsweise lobenswert friedlich, keinerlei Beschädigungen, keine Mülltonnen brennen, keine Polizei wird beschimpft. „Kreuzberger Nächte sind lang“, wird im Ex-Westberlin skandiert. Als wir wieder einmal unser zweimaliges "Chemie, Chemie, nur noch Chemie!" brüllen, ruft einer der Bulletten, welche uns vom Straßenrand zusehen: "Janz jenau, wa? Nie wieder Bio!"
Passanten winken uns zu, Kinder freuen sich, viele wundern sich. Wer wir denn wohl sind – will eine ältere Dame von uns wissen. „Wir sind die Fußballmannschaft Chemie Leipzig“ – wird ihr entgegnet. Ach so, Bundesliga, so die Dame. Freudiges Gelächter. Es gibt keinen Kontakt mit der Szene anderer Berliner Vereine, keinerlei Provokationen. Trotzdem baut sich auch Spannung auf, wir singen „Ahoh-uuhh-hey / wir hassen den BFC / wir holen den FDGB-Pokal / und wir werden deutscher Meister (Meister!).
Kurz vor dem Stadion, auf einer der für uns für den Verkehr gesperrten Hauptstraßen, wird dann auch das Wort „Stasischweine“ skandiert. Andere wiederum versuchen, dies zu übertönen; jenes Wort durch: „Nazischweine“ substituierend. Das ergibt dann natürlich einen seltsamen Zwei-Wort-Brei. (So geschieht es auch später im Stadion). Wieder andere brüllen: „Keine Politik!“ Die unterschiedlichen Auffassungen sind teils kurz vor der jeweiligen Handgreiflichkeit, können aber Schluss-endlich entschärft werden. Ich versuche zu vermitteln, entschuldige mich auch bei der Berliner Polizei in Gestalt einer uniformierten, blonden, jungen Frau für unser Not-wässern an grünen Hecken nach der langen Zugfahrt und oben geschilderter Situation. Bin halt gut erzogen.Aus unverständlichen Gründen lässt man uns vor dem Jahn-Sportpark wieder zirka 20 Minuten warten, sodass der Anpfiff runde 20 Minuten verzögert wird. Die Kontrollen wirken unprofessionell und schleppend. Schließlich gibt man seitens des Einlasses doch noch Gas, geht offensiv und vorausdenkend in die Zuschauer rein, und plötzlich läuft es. Wieder einmal weit und breit nichts zu sehen von einem Stadionheft. Eine Frechheit für alles die BSG Chemie betreffend Sammelnde wie mich.
Das Spiel ist schnell erzählt: Zunächst erkenne ich meine Mannschaft nicht wieder. Sie gehen drauf wie Blücher, schnüren den auf allen Positionen natürlich nominell höherwertig taxierten BFC sogar über weite Strecken der ersten Halbzeit in dessen eigener Hälfte ein, erarbeiten sich Chancen, wie selten sonst. Diesmal hilft der Schiedsrichter, als unser Samurai Rintaro Jajima in der sechsten Minute im Strafraum der Berliner zu Fall kommt, und schenkt uns einen Elfmeter. Daniel Heinze tritt an, aber der Torwart der Berliner greift über und hält den halbhoch, also: - schwach - geschossenen Elfer. Im Verlaufe des Spieles kommen wir noch zu fünf weiteren Großchancen, die wir alle versemmeln. Dem BFC hingegen reichen drei Chancen für drei Tore: In der 38. Minute läuft unser Torwart Lattendresse-Levesque halbherzig heraus, bricht dieses jedoch ab; und mit einem einfachen Heber von Joey Breitfeld gelingt dem BFC das Führungstor. Als notorischer Pessimist befürchte ich, dass damit „die Messe“ gelesen ist.
In der Pause laufe ich noch einmal die Treppen Richtung Ausgang herunter, denn ich habe die Hoffnung auf ein Stadionheft noch nicht aufgegeben. Keine Verkäufer weit und breit. Frustriert will ich mich mit einer Bratwurst trösten, doch an dem Stand, wo ich mich angestellt habe, und: - natürlich - gerade dran wäre, eskaliert eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gästefans einerseits, und den vier bis fünf Berliner Bratwurstleuten andererseits. Die Gästefans checken die Bratwurstleute zunächst auf Sympathien für Union oder Hertha. Als dies abschlägig beschieden wird, fallen wieder die Worte „Stasischweine“. Und anderes, unschönes, wird gesagt. Die Bratwurstleute beklagen sich, schließlich werden sie von den Gästefans mit vollen Getränkebechern beworfen. Drohgebärden beidseitig, dann laufen die Gäste, bei denen ich eher Union- als Chemie-Zugehörigkeit vermute, schnell davon, denn jetzt ist auch die Polizei am Stand. Ob ich trotzdem noch eine Bratwurst wolle, werde ich schließlich gefragt. Ich offenbare den Bratwurstleuten, dass ihr Verein eben immer noch mit den negativen Aspekten der DDR identifiziert wird. Andere Zeiten, andere Liga; wollen die sich verteidigen. Ich erkläre denen abschließend, dass sie sich nicht zu wundern brauchen, wenn sie der DDR-Fahne so offen hofieren und dieselbe propagieren, wie auf ihrer Tribüne im Stadion.
In der zweiten Halbzeit bäumt sich Chemie zunächst auf, überlässt dem Gegner jedoch zu viele Räume. So reicht dem eine einfache Kombination zum 2:0. Später erzielt David Malembana durch einen Fern-Freistoß gar noch das dritte Tor für den BFC, bei welchem unser Torwart erneut alles andere als gut aussieht. So langsam verstehe ich, warum Benny Kirsten beim Ortsrivalen, der ihn ja an uns abgab, vor ihm als gesetzt galt. Bei Julien wechseln sich halt geniale Momente mit Fehlgriffen, Zögern und falschen Entscheidungen ab. Trotz aller Bemühungen belohnt Chemie sich nicht wenigstens noch mit einem Ehrentor. Wie von mir nicht anders erwartet, schießt auch unser eingewechselter Stürmer Tommy Kind aus aussichtsreicher Position am Tor vorbei. Wie so oft bedankt sich die Mannschaft lange und ausgiebig bei den zirka 1400 mitgereisten Gästefans, denen nur unerheblich mehr Heimfans gegenüber traten. Die staunten nicht schlecht, als sie das Lied mit den Chemie-Schweinen skandierten, und wir alle mitmachten. Wir sind nämlich stolze Chemie-Schweine seit der Sache mit dem kleinen Ferkel, welches uns dereinst als Glücksschwein diente. Ob unsere Einpeitscher mit den Megaphonen nicht ein wenig zu weit gingen, als sie Berlin lautstark als „Scheißstadt“ bezeichneten? Aus meiner Sicht: ja. Unsere Moral hielt, unser Vermögen vor dem Tor des Gegners war wieder einmal nicht existent.Der Abmarsch zum Gesundbrunnen verlief danach recht still. Zu sehr wirkt das Spiel nach, bei dem heute, wie man im Fußball sagt, sogar etwas „gegangen“ wäre. Wir waren nicht schlecht, spielerisch und in den Kombinationen mutig und deutlich verbessert. Keiner hätte erwartet, dass wir gegen den BFC etwas „reißen“. Desto schmerzlicher das Bewusstsein, dass heute sogar ein Sieg drin gewesen wäre. Den Elfer verwandeln, mauern; und Konter setzen. So wäre es vielleicht gegangen. Diesmal laufe ich schneller zurück, um unter den ersten zu sein, die einen Sitzplatz ergattern. Doch April, April, denn der Zug läuft auf einem anderen Gleis ein; und die eben noch Ersten werden zu den Letzten. Trotzdem bekomme ich einen Mutti-und-Kind-Sitz ganz für mich allein im vorletzten Hänger. Ich habe starke Kopfschmerzen und will nur noch nachhause. Zweimal ziehen irgendwelche Spinner so einfach eben mal die Notbremse; andere werfen dann Pyrotechnik aus den Fenstern. Das dies Chemie wieder kosten wird, und eine spätere, nochmalige Sonderzug-Aktion wie die heutige gefährden könnte: Geschenkt. Wie unser möglicher Sieg dem BFC. Leider. Da der Ortsrivale ausnahmsweise einmal hilfreich war und seinem Angstgegner Auerbach ein Unentschieden abgetrotzt hat, bleibt in der Tabelle für uns wenigstens alles, wie es war. Zumindest beinah, denn der Tuchfühlung mit dem Mittelfeld sind wir wieder ledig. Das nächste Spiel in Leutzsch gilt dann erneut einem Verein der Icke-sagenden; den Potsdamern aus Altglien-icke. Wenn es wieder heißt: „Auf geht’s, Chemie, kämpfen und siegen!“All words and pictures owned by Fritz Rainer Polter
von Fritz Rainer Polter
12. Ligaspiel + BFC Dynamo - Chemie Leipzig 3:0 + Platz 15 (von 18) mit elf Punkten
Auf dem Hauptbahnhof Leipzig versammeln sich die Chemiker ab 8.30 Uhr auf dem Querbahnsteig vor dem Bahngleis 11, wo der von den Chemie-Fanclubs selbstorganisierte Sonderzug zum Gesundbrunnen bereitstehen soll. Tut er nicht, und als der zirka eine halbe Stunde verspätet einrollt, fehlen zwei der angedachten sieben Hänger. Die Gründe dafür bleiben unklar, einige munkeln von einem Rangier-Versagen der Bundesbahn, andere wiederum wollen dies nicht glauben, und mutmaßen, die zwei Hänger wären wohl von uns nicht bezahlt worden. Wie auch immer, leiden müssen die Fans, welche wie Sardinen in der Büchse zusammengedrängt werden. Sitzplätze gibt es nur für zirka die Hälfte der 850 Reisenden in Grün/Weiß, die andere Hälfte muss in die Gängen sehen, wie sie die zirka zweieinhalb Stunden lange Fahrt übersteht.
Und das wird schwierig. Es wird reichlich Bier konsumiert, und schon bald bilden sich bis tief in die Hänger reichende Schlangen an den Toiletten mit Wartezeiten bis zu 30 Minuten. Schon bald halten es einige nicht mehr aus und nutzen, sagen wir: durchlässige, durch Licht zu erspähende Vakanzen in den kleinen Übergängen zwischen den Hängern. Auch dafür muss man lange anstehen. An den offen Notdürftig-Vollziehenden vorbei passieren nun die mit Sandwichs und Bockwurst ausgestatten Fans, Männer wie Frauen, welche die Wartezeit an den Versorgungständen ausgestanden haben. Eklig, doch Not kennt wenig Gebot. Und es wird zünftig und ohne Rücksicht überall geraucht, sodass Nichtraucher mit Atemschwäche wie ich unsagbar leiden. Allerdings sind die Zwischenabteile mit den Raucherinseln wie überhaupt der gesamte Zug hoffnungslos überfüllt. Die Raucher haben also gar keine andere Option.
Schlimm, dass es in Deutschland noch so viele Raucher gibt. Ich behelfe mich mit hochprozentigen Sachen und öffne meinen Tetra Pak, angefüllt mit 1,5 Prozent fetthaltiger, laktosefreier Milch, was von den Alkoholkonsumierenden um mich herum, sagen wir: durchaus beachtet, und kontrovers kommentiert wird. Ich stehe allein und ohne jede Kommunikation in einer Ecke eines Zwischenabteils, gestützt von einem metallenen Abfallbehälter unter einem Fenster. Zum Glück möchte diesen niemand nutzen. Oder sagen wir, keiner sieht ihn mehr, da ich ihn halb sitzend, halb lehnend, okkupierte. So muss ich nicht wenigstens andauernd auf den Durchgangsverkehr reagieren, wie all jene, die auf den Treppen der Aufgänge oder im Gang sitzen. Durch die verzögerte Abfahrt kommt es immer wieder zu Wartezeiten an den Signalen. Oft hat man sogar den Eindruck, jetzt ginge es wieder zurück. Oder nach Berlin über Cottbus.Am Gesundbrunnen werden wir von der Berliner Polizei in Empfang und Begleitschutz genommen. Vom S-Bahnhof in Wedding laufen wir über eine geschichtsrächtig wirkende Eisenbrücke, passieren die ehemalige Grenze zur ehemaligen Ostzone und weiter geht es durch Nebenstrassen in Richtung Vinetastrasse. Vorbei an Pankow über Weißensee auf die Berliner Strasse zum Stadion des BFC Dynamo, dem Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in der Steffenstrasse, Gästeeingang: Eberswalder Str./ Topsstrasse. Unser Anmarsch ist für Fußballfans vergleichsweise lobenswert friedlich, keinerlei Beschädigungen, keine Mülltonnen brennen, keine Polizei wird beschimpft. „Kreuzberger Nächte sind lang“, wird im Ex-Westberlin skandiert. Als wir wieder einmal unser zweimaliges "Chemie, Chemie, nur noch Chemie!" brüllen, ruft einer der Bulletten, welche uns vom Straßenrand zusehen: "Janz jenau, wa? Nie wieder Bio!"
Passanten winken uns zu, Kinder freuen sich, viele wundern sich. Wer wir denn wohl sind – will eine ältere Dame von uns wissen. „Wir sind die Fußballmannschaft Chemie Leipzig“ – wird ihr entgegnet. Ach so, Bundesliga, so die Dame. Freudiges Gelächter. Es gibt keinen Kontakt mit der Szene anderer Berliner Vereine, keinerlei Provokationen. Trotzdem baut sich auch Spannung auf, wir singen „Ahoh-uuhh-hey / wir hassen den BFC / wir holen den FDGB-Pokal / und wir werden deutscher Meister (Meister!).
Kurz vor dem Stadion, auf einer der für uns für den Verkehr gesperrten Hauptstraßen, wird dann auch das Wort „Stasischweine“ skandiert. Andere wiederum versuchen, dies zu übertönen; jenes Wort durch: „Nazischweine“ substituierend. Das ergibt dann natürlich einen seltsamen Zwei-Wort-Brei. (So geschieht es auch später im Stadion). Wieder andere brüllen: „Keine Politik!“ Die unterschiedlichen Auffassungen sind teils kurz vor der jeweiligen Handgreiflichkeit, können aber Schluss-endlich entschärft werden. Ich versuche zu vermitteln, entschuldige mich auch bei der Berliner Polizei in Gestalt einer uniformierten, blonden, jungen Frau für unser Not-wässern an grünen Hecken nach der langen Zugfahrt und oben geschilderter Situation. Bin halt gut erzogen.Aus unverständlichen Gründen lässt man uns vor dem Jahn-Sportpark wieder zirka 20 Minuten warten, sodass der Anpfiff runde 20 Minuten verzögert wird. Die Kontrollen wirken unprofessionell und schleppend. Schließlich gibt man seitens des Einlasses doch noch Gas, geht offensiv und vorausdenkend in die Zuschauer rein, und plötzlich läuft es. Wieder einmal weit und breit nichts zu sehen von einem Stadionheft. Eine Frechheit für alles die BSG Chemie betreffend Sammelnde wie mich.
Das Spiel ist schnell erzählt: Zunächst erkenne ich meine Mannschaft nicht wieder. Sie gehen drauf wie Blücher, schnüren den auf allen Positionen natürlich nominell höherwertig taxierten BFC sogar über weite Strecken der ersten Halbzeit in dessen eigener Hälfte ein, erarbeiten sich Chancen, wie selten sonst. Diesmal hilft der Schiedsrichter, als unser Samurai Rintaro Jajima in der sechsten Minute im Strafraum der Berliner zu Fall kommt, und schenkt uns einen Elfmeter. Daniel Heinze tritt an, aber der Torwart der Berliner greift über und hält den halbhoch, also: - schwach - geschossenen Elfer. Im Verlaufe des Spieles kommen wir noch zu fünf weiteren Großchancen, die wir alle versemmeln. Dem BFC hingegen reichen drei Chancen für drei Tore: In der 38. Minute läuft unser Torwart Lattendresse-Levesque halbherzig heraus, bricht dieses jedoch ab; und mit einem einfachen Heber von Joey Breitfeld gelingt dem BFC das Führungstor. Als notorischer Pessimist befürchte ich, dass damit „die Messe“ gelesen ist.
In der Pause laufe ich noch einmal die Treppen Richtung Ausgang herunter, denn ich habe die Hoffnung auf ein Stadionheft noch nicht aufgegeben. Keine Verkäufer weit und breit. Frustriert will ich mich mit einer Bratwurst trösten, doch an dem Stand, wo ich mich angestellt habe, und: - natürlich - gerade dran wäre, eskaliert eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gästefans einerseits, und den vier bis fünf Berliner Bratwurstleuten andererseits. Die Gästefans checken die Bratwurstleute zunächst auf Sympathien für Union oder Hertha. Als dies abschlägig beschieden wird, fallen wieder die Worte „Stasischweine“. Und anderes, unschönes, wird gesagt. Die Bratwurstleute beklagen sich, schließlich werden sie von den Gästefans mit vollen Getränkebechern beworfen. Drohgebärden beidseitig, dann laufen die Gäste, bei denen ich eher Union- als Chemie-Zugehörigkeit vermute, schnell davon, denn jetzt ist auch die Polizei am Stand. Ob ich trotzdem noch eine Bratwurst wolle, werde ich schließlich gefragt. Ich offenbare den Bratwurstleuten, dass ihr Verein eben immer noch mit den negativen Aspekten der DDR identifiziert wird. Andere Zeiten, andere Liga; wollen die sich verteidigen. Ich erkläre denen abschließend, dass sie sich nicht zu wundern brauchen, wenn sie der DDR-Fahne so offen hofieren und dieselbe propagieren, wie auf ihrer Tribüne im Stadion.
In der zweiten Halbzeit bäumt sich Chemie zunächst auf, überlässt dem Gegner jedoch zu viele Räume. So reicht dem eine einfache Kombination zum 2:0. Später erzielt David Malembana durch einen Fern-Freistoß gar noch das dritte Tor für den BFC, bei welchem unser Torwart erneut alles andere als gut aussieht. So langsam verstehe ich, warum Benny Kirsten beim Ortsrivalen, der ihn ja an uns abgab, vor ihm als gesetzt galt. Bei Julien wechseln sich halt geniale Momente mit Fehlgriffen, Zögern und falschen Entscheidungen ab. Trotz aller Bemühungen belohnt Chemie sich nicht wenigstens noch mit einem Ehrentor. Wie von mir nicht anders erwartet, schießt auch unser eingewechselter Stürmer Tommy Kind aus aussichtsreicher Position am Tor vorbei. Wie so oft bedankt sich die Mannschaft lange und ausgiebig bei den zirka 1400 mitgereisten Gästefans, denen nur unerheblich mehr Heimfans gegenüber traten. Die staunten nicht schlecht, als sie das Lied mit den Chemie-Schweinen skandierten, und wir alle mitmachten. Wir sind nämlich stolze Chemie-Schweine seit der Sache mit dem kleinen Ferkel, welches uns dereinst als Glücksschwein diente. Ob unsere Einpeitscher mit den Megaphonen nicht ein wenig zu weit gingen, als sie Berlin lautstark als „Scheißstadt“ bezeichneten? Aus meiner Sicht: ja. Unsere Moral hielt, unser Vermögen vor dem Tor des Gegners war wieder einmal nicht existent.Der Abmarsch zum Gesundbrunnen verlief danach recht still. Zu sehr wirkt das Spiel nach, bei dem heute, wie man im Fußball sagt, sogar etwas „gegangen“ wäre. Wir waren nicht schlecht, spielerisch und in den Kombinationen mutig und deutlich verbessert. Keiner hätte erwartet, dass wir gegen den BFC etwas „reißen“. Desto schmerzlicher das Bewusstsein, dass heute sogar ein Sieg drin gewesen wäre. Den Elfer verwandeln, mauern; und Konter setzen. So wäre es vielleicht gegangen. Diesmal laufe ich schneller zurück, um unter den ersten zu sein, die einen Sitzplatz ergattern. Doch April, April, denn der Zug läuft auf einem anderen Gleis ein; und die eben noch Ersten werden zu den Letzten. Trotzdem bekomme ich einen Mutti-und-Kind-Sitz ganz für mich allein im vorletzten Hänger. Ich habe starke Kopfschmerzen und will nur noch nachhause. Zweimal ziehen irgendwelche Spinner so einfach eben mal die Notbremse; andere werfen dann Pyrotechnik aus den Fenstern. Das dies Chemie wieder kosten wird, und eine spätere, nochmalige Sonderzug-Aktion wie die heutige gefährden könnte: Geschenkt. Wie unser möglicher Sieg dem BFC. Leider. Da der Ortsrivale ausnahmsweise einmal hilfreich war und seinem Angstgegner Auerbach ein Unentschieden abgetrotzt hat, bleibt in der Tabelle für uns wenigstens alles, wie es war. Zumindest beinah, denn der Tuchfühlung mit dem Mittelfeld sind wir wieder ledig. Das nächste Spiel in Leutzsch gilt dann erneut einem Verein der Icke-sagenden; den Potsdamern aus Altglien-icke. Wenn es wieder heißt: „Auf geht’s, Chemie, kämpfen und siegen!“All words and pictures owned by Fritz Rainer Polter