Unterwegs in Nordzypern: Varosha - Die gefrorene Stadt
Varosha – Was Traumstrand war und immer noch sein könnte, ist nun vermülltes Ödland
Wir, – das sind Jens und ich auf Insel-Rundreise und zu den Kirchen und Klöstern des Troodos-Gebirges, - suchen nach dem bewachten Eingang in die Geisterstadt Varosha. Diese besucht man vom türkischen Nordzypern aus, ein Extra-Visum ist nicht notwendig. Als wir den Zugang nicht gleich finden, gehe ich auf einen mittelalten vermeintlichen Türken zu, welcher in verschlissener Khaki-Uniform Müll vom einstigen Traumstrand am Rande der Stacheldraht-Absperrung entfernt. Merhaba! Do you speak a little English? Oim completly English, bellt er mir wütend entgegen. Fehlt nur noch, dass er mich demaskiert und als German bastard beschimpft.
Varosha – Schon von den Ausläufern der Stadt Gazimagusa sieht man den geisterhaften Ort
Selbst der Kran aus dem Jahr 1974 wirkt, als würde er morgen wieder seinen Betrieb aufnehmen
Ist er hier nach seiner Dienstzeit hängen geblieben und arbeitet für die Türken, wo es doch viel weniger zu verdienen gibt, als bei den Griechen im Süden? Ich frage ihn nicht. Dann erklärt er mir doch noch den Weg zum Eingang, wo die türkischen Soldaten stehen. Erstaunlicherweise nimmt man hier (noch) keinen Eintritt, aber die Zeit wird kommen. Bezahlt für die Fahrräder kann nur online werden. Haben sie Drohnen? Sie verlangen sogar, dass ich mein Objektiv von der Kamera löse; es könnte ja Sprengstoff in selbiger sein. Einer grabscht nach meiner Canon. Natürlich fällt mein Objektiv dabei zu Boden, weil die Kerle es übertreiben. Ich muss mich echt beherrschen, sie nicht Idioten zu nennen. Zum Glück hat sich nur eine Gummierung etwas gelöst – allerdings innen, wo ich nicht ran komme. Jens äußert, dass wir Touristen wären, und keine Terroristen. Ich bin da nicht so glücklich. Touristen – das sind doch immer die anderen. Auf Fahrrädern kommen darf man nicht.
Varosha – Wo die Zeit von der Uhr fiel, und sich eingefroren hat
Varosha – Eine Geisterstadt hinter Stacheldraht
Fahrräder ausleihen schon. Es gibt auch kleine Züge mit Caddies. Wahrscheinlich muss man warten, bis sie voll besetzt sind. Wir, beide leidenschaftliche Radfahrer, verzichten. Das hier ist keine Radtour oder irgendeine gesellige oder sonstige Ausfahrt. Es ist viel ernster. Es ist verfehlte Politik. Bereits jenseits des Grabens, welcher die eigentliche Demarkationslinie markiert, sieht man das, was wie Invest-Ruinen wirken würde, wüsste man es nicht besser. Aber halt, es sind, so gesehen, durchaus Invest-Ruinen. Das weiß getünchte Hochhaus steht im türkischen Nordzypern. Zwischen ihm und der der roten Backsteinmauer liegt ein auf beiden Seiten mit Stacheldraht gesicherter Graben, die Grenze zum griechischen Teil der Insel. Das Haus zwischen den Palmen liegt in Varosha, der ehemaligen Urlaubs-Bettenburg des griechisch geprägten Famagusta, dem heutigen türkischen Gazimagusa.
Das Café Edelweiß an einer von UN-Truppen gesicherten Kreuzung
Varosha – An den Strand gelangt der Besucher eigentlich nicht. Hier badet nur das Militär
1974: Die türkische Armee bewegt sich auf die wichtige Stadt Famagusta zu.40.000 Griechen und, kaum mag man es glauben, zahlreiche Urlauber, welche wohl die Augen vor der aktuellen politischen Lage verschlossen hatten, flohen in Panik auf die britische Militärbasis „Dekeleia“. Bomben fallen, Gebäude werden zerstört. Drei türkische Soldaten auf Patrouillengang besetzten den Ort drei Tage nach dem Waffenstillstand; die schwedischen UN-Truppen ließen es tatenlos geschehen. Varosha, in welches die griechischen Zyprioten erst ab 1960 noch Millionen von Dollars gesteckt hatten, - ein vermeintliches Urlaubsparadies mit realem Traumstrand für Briten, Franzosen, Westdeutsche, - erstreckt sich auf einer Länge von sieben Kilometern und verfügt über eine Tiefe von einem Kilometer. Die Türken wollten Varosha gar nicht wirklich, aber sie haben es. Als Pfand, als Verhandlungsobjekt, so heißt es.
Ein jeder Verfall hat seine ganz eigene Poesie
Varosha – Das verlassene Gebäude der alten, griechischen Kunstschule „Lykeio Ellinidon“
Der Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verabschiedete am 11 Mai 1984 seine „Resolution 550“ mit der Feststellung, dass „Siedlungsabsichten in irgendeinem Teil von Varosha durch andere als seine (ursprünglichen) Einwohner unzulässig“ sind. Somit wären den Türken die Hände gebunden. Also lassen sie Varosha verfallen. Weil sie es können. Weil es ihnen völkerrechtlich sowieso nicht gehört. In einigen Abschnitten haben sie Landminen deponiert. Die Griechen dürfen zurück in ihr Eigentum – verkündeten sie unlängst pathetisch. Natürlich nur, wenn sie sich brav der nordzypriotisch-türkischen Verwaltung unterstellen. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, will das kein einziger. Seit 2021 machte man die Geisterstadt von türkischer Seite für Touristen bedingt zugänglich. Bedingt; das heißt, dass man sich nur auf den ausgewiesenen Wegen aufhalten darf. Dafür hat man sogar einige Straßen neu asphaltiert. Von Zeit zu Zeit gibt es Schildhäußchen und Schildwachen.
… es gibt durchaus noch Buchläden in Varosha …
Genau am „Café Edelweiss“, wo seit 1974 nicht mehr bedient wird, treffen sich türkische und UN-Truppen. Das Fotografieren der brisanten Punkte wird mir gleich zwiefach verboten. Einige Straßen darf man nicht begehen. Zum Strand darf man nicht hinunter. Die Gebäude darf man nicht betreten. Willkommen in Varosha! Wieder zu Hause, bekomme ich mit, dass es doch zwei geöffnete Enklaven am Strand für türkische Offiziere geben soll. Aber wo ist der Zugang? Die grünen Meeresschildkröten, welche hier inzwischen ihre Nistplätze haben, freut das sicher nicht. Konzipiert wurde der Ort ab 1960 als Urlaubsort für die britischen Soldaten und ihre Angehörigen. Schon damals bezeichneten Kritiker die künstliche Vorstadt von Famagusta, dem heute türkischen Gazimagusa, als „problematisch“ und als „architektonische Umweltverschmutzung“ mit 4000 Betten auf engstem Raum.
… tanken sie auf im friedlichen Varosha …
Das einstige griechische Gymnasium. Unnötige türkische und griechische Flaggen gibt es auf beiden Seiten
Ob diese nun in wohl den Häusern verrotten? Viele Gebäude wurden seither von den türkischen Zyprioten geplündert. Einige wenige hat sich das Militär gesichert. Das Meer sei in die Keller eingedrungen und nage an den Fundamenten, so heißt es. Und das Salz fresse am Beton der Hochhäuser. Natürlich nutzen auch griechische Zyprioten die Möglichkeit, ihre ehemalige Heimat zu besichtigen. Viele von ihnen sind teils versteinert und eingefroren wie die Stadt, wenn sie vor ihren ehemaligen Wohnstätten stehen. Einige überwinden die Absperrungen in der Hoffnung auf das Ansehen der Zimmer ihrer ehemaligen Wohnungen. Militär führt sie schnell zurück, und man hat Glück, wenn es „nur“ die UN-Truppen sind. Die Türken drohen gleich mit Inhaftierung. Jens und ich gehen nicht alle der möglichen Wege. Mag sein, dass uns dieses und jenes entgeht, zum Beispiel die Moschee, welche gar wieder offen sein soll für Gläubige, die hier zusätzliche Erbauung benötigen. Am „griechischen Gymnasium“ gibt es eine Art Kiosk, wo sich der müde Varosha-Wanderer laben könnte, wenn er eine Kreditkarte dabei hat. Wir verzichten. Es ist die einzige Option, die der Wanderer in Varosha hat.
Varosha ist sicherlich ein trauriges Dokument einer Teilung. Was ist es darüber hinaus? Was ist es für mich? Als Hobby-Historiker habe ich gelernt, den Begriff der „Ruinen“ mit der Antike, Byzanz oder dem Osmanischen Reich gleichzusetzen. Hier stoße ich auf Ruinen aus dem Jahr 1974. Was bedeutet dieses Jahr 1974 nun für mich? Banalität: Ich wurde 12. Keine Banalität: Es war mein post-operatives Jahr, und ich wurde nun erst richtig zum Chemie-Leipzig-Fan, weil mein Herz von nun an ein grünes Stück Filz in sich trug. Eingenäht, versteht sich. Ich durfte zum ersten Mal Fahrradfahren und Fußball spielen. Ich hörte Radio Luxemburg und NDR2 mit der Kofferheule unter der Bettdecke bis spät in die Nacht. Manchmal erwischte mich meine Mutter. Sie fror mir den Radio-Gebrauch ein.
Wenn du sehr leise bist und nahe genug um das Café Edelweiss schleichst, kannst du die Musik von 1974 aus dem Radio des Cafés für einen Moment auftauen. Zuletzt liefen da Waterloo, Seasons in the sun, Fox on the run, It’s only Rock’n Roll, Heroes are hard to find, Bungle in the jungle, The lamb lies down on broadway, Hot shot, Leave it, This town ain`t big enough for both of us. Allerdings, und ganz zuletzt, und eingefroren, auch: Let’s get together again.
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