'Mission Klassenerhalt' (VI) - Spätes Gedenken
von Fritz Rainer Polter
Hohe Brisanz und hohes Polizeiaufgebot im Vorfeld sind gegeben durch die Tatsache, dass die Berliner Fans ihres am 03.11.1990 in der Nähe der Gleise im Umfeld des Alten Bahnhofs Leutzsch durch einen Schuß aus einer Polizeipistole getöteten Kameraden Mike Polley gedenken wollen. Dies beinhaltet eine Kranzniederlegung durch Angehörige, Freunde, Vertreter des Vereins BFC und seiner Fangruppierungen nebst Gästen anderer Vereine. Darunter befindet sich auch Frank Kühne, der aktuelle Präsident der BSG Chemie Leipzig. Im Vorfeld dieser Geschichte kochten ja gerade in einem Forum der Chemie-Fans die Emotionen hoch. Aus meiner Sicht finde ich das einfach großartig, wie sich unser Verein hier verhält: In der Anwesenheit des Chefs beim Gedenken, in der Erweiterung des Kartenkontigents für die Gäste von 500 auf 800 Tickets, und in der Anwesenheit der Ultra-Fangruppierung „Georg-Schwarz-Brigade“ der Fanszene von Chemie Leipzig gemeinsam mit Vertretern anderer Vereine, darunter natürlich die mit den Berlinern teils ja auch befreundeten Abordnungen vom VFL Bochum, 1. FC Magdeburg und 1. FC Lok Leipzig.
„Niemand wie wir!“ ist unser erblicher Hauptschlachtruf, mit dem wir unsere Historie beschwören, unsere Gegenwart manifestieren, und unsere Vision für die Zukunft untermalen. Und wieder einmal leben wir dieses: Indem wir den Angehörigen, Freunden und Kameraden von Mike Polley zugestehen, was auch wir erwarten würden, wäre einer von uns in Berlin zu Tode gekommen: Empathie und Trauer UM EINEN MENSCHEN, DER SEIN JUNGES LEBEN VERLIEREN MUSSTE. Genau hier, wo er sterben musste, sollen sie dies auch leben dürfen. Betroffenheit, dass dies gerade bei uns in Leutzsch geschah. Nunmehr auch Teil unserer Geschichte ist. Uns angeht. Mitgefühl für die ihn damals vielleicht nicht nur im übertragenem Sinnen nahe Stehenden, denen die Kugeln um die Ohren gepfiffen sind. Verbundenheit mit dem Leid von Mitmenschen, die einen Verlust erlitten. Nicht im Nirgendwo, sondern hier, bei uns, in Leipzig-Leutzsch. Es kann wohl auch kein Zufall sein, dass diese Geschichte gerade dem aus der Sicht vieler von der Sportführung der DDR am meisten bevorzugten (BFC) und dem am meisten benachteiligten Verein (BSG) geschehen ist.

Nur dies soeben beschriebene bedeutet diese Teilnahme von Vertretern der BSG Chemie Leipzig an diesem Gedenken. Nichts sonst. Es bedeutet weiterhin nicht, dass man etwa einen Schulterschlussmit dem BFC Dynamo begeht oder sich verbrüdert mit jenen, die kamen, um uns zu hassen, und ihren Hass zu leben. Es bedeutet schon gar nicht, dass man auf die Aufarbeitung der DDR-Fußballgeschichte verzichtet. Es ist auch kein Politikum oder aktueller Fanfreundschaftsantrag. Das ich den BFC Dynamo nicht mag (um es milde auszudrücken), habe ich ausführlich im Bericht über das Hinspiel geschrieben. Es bedeutet, dass man in so einer Sache alles heute und hier Irrelevante auszublenden vermag.

Ich bin früh am Terrain, taste mich von der von der S-Bahn-Brücke an das Bahnhofsgelände heran, spreche offen mit den Polizisten und bitte darum, dass man mich auch ohne Presseausweis soweit als irgend möglich an die Kranzniederlegung der Gäste heranlässt. Schließlich brauche ich Fotos für die Kolumne hier. Später gelange ich mühsam, tastend in den verbotenen Bereich hinter den Gästeblock, knipse ein paar Bilder von den Befis. Bis mich ein Polizist angeht, ich solle das lassen, weil die Befis genervt reagieren könnten. Tun sie aber gar nicht. Ich soll hier verschwinden. Ich tu so, als ob, und knipse weiter. Einmal renitent, immer renitent!


Im Stadion gehe ich so nah als möglich an den Gästeblock. Fange das Aufrollen des großen „In Gedenken an Mike Polley“ Spruchbandes fotografisch ein. Erlebe, wie ein todesmutiger, allerdings bulliger BFC Fan, der neben mir stand, von unseren Ordnern hinausgewiesen wird. Er hatte ein BFC-Shirt an, das war mir gar nicht aufgefallen, denn es war keines der üblichen weinroten. Ich hoffe, dass man ihn nicht rausschmeißt, sondern in den Gästeblock bringt. Auf dem Norddamm treffe ich Jens aus Torgau mit seiner Schalmei, der zusammen mit einem Bekannten (einem Österreicher, der in Torgau wohnt, und den Kontakt zwischen Brandon Stelmak und der BSG Chemie vermittelt hat) angereist ist – jeder auf seiner eigenen Harley. Dann erscheint noch „Ralle“, ein Ur-Chemiker, der zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder ins Stadion findet. Meine anderen Kumpels fehlen heute alle aus verschiedensten Gründen. Die Atmosphäre ist und bleibt friedlich, was mich sehr freut. Heute überwiegt nicht der Hass, sondern das Mike-Polley-Gedenken. Der Stadionsprecher informiert uns über die Teilnahme unseres Chefs und der Georg-Schwarz-Brigade an der Aktion, was auch von den Befis mit Applaus bedacht wird. Und mit einem Applaus gedenken auch viele von uns gemeinsam mit den BFC-Fans an Mike Polley. Überwiegend beschränken sich beide Lager auf das Anfeuern der eigenen Vereine, statt sich über den Hass auf andere zu definieren. 4216 Zuschauer sind es geworden, wird später im Stadion verkündet. Mehr als ordentlich, und 1000 mehr, als ich bei Anpfiffschätzte.
Dann geht’s endlich los, was für mich wieder bedeutet, fotografische Schwerstarbeit zu leisten. Situation zu antizipieren, Winkel und Zoom stets up to date zu halten. Ich lege die kleine Kamera auf das Geländer des Norddamms, um Wackler beim Knipsen zu vermeiden. Der BFC, der vor sich als nächstes das schwere Pokal gegen Tennis Borussia hat, und dessen Stürmer-Star Rufat Dadashov verletzt fehlt, tritt tatsächlich in einer Art B-Elf an. Uns kann es recht sein. Wenn Andreas Petersen, der Trainer von Germania Halberstadt, in der Pause während der Live-Übertragung durch das MDR-Fernsehen da von „Wettbewerbsverzerrungen“ spricht, gebe ich zu bedenken, dass die Art, wie etwa die Spieler des 1. FC Lok Leipzig ihr letztes Spiel gegen den VFC Auerbach, einen unserer Kontrahenten in der Abstiegsvermeidung, angegangen sind, dann nichts Geringeres bedeutet. Desgleichen das, sagen wir mal, zurückhaltende Agieren der anderen Berliner Vereine, wenn sie gegen Altglienicke spielen, die ebenfalls im Abstiegskampf stecken. Die Ergebnisse all jener, von denen wir noch mindestens einen hinter uns lassen müssen, wenn wir in der Regionalliga verbleiben wollen, sprachen am Tag zuvor jedenfalls eindeutig und gnadenlos gegen uns.
'Gutes Spiel'
Chemie beginnt gut, Chemie beginnt druckvoll, Chemie kommt zu Torchancen und lässt selbst nichts zu. Und das gegen den BFC, zweiter Anzug, oder nicht. In der 14. Minute fällt endlich, nach vielen guten Offensiv-Vorstößen unserer Mannschaft, das Tor für uns. Erzielt wird es nach einem Pass von Manuel Wajer durch Pierre Merkel. Hätte Merkel verpasst, wäre der (uns wohl in Richtung Chemnitz verlassende) Alexander Bury danach ebenfalls einschussbereit gewesen. Pierre Merkel holt aus .....
.... und trifft!
Jubel vor der BFC-Bank
Bury, soviel muss ich sagen, macht ein großes Spiel. Was nicht selbstverständlich ist, nachdem offenbar wurde, dass er wechselwillig ist. In der 52. Minute gelangt Bury mit dem Ball frei vor den Berliner Torhüter Sommer, der ihn mit den Armen regelrecht umreist. Dem sehr guten Schieri Marcel Unger aus Halle bleibt nichts anderes übrig, als auf den Punkt zu zeigen. Yajima tritt an. Doch so sehr er mein Lieblingsspieler ist: Ich ahne, dass das schiefgeht, und sage dies auch zu Jens. „Ich bin nicht Torjäger!“ sagte Yajima unlängst, als er zwei Treffer in einem Spiel erzielte. Heute lässt er diesbezüglich sogar eine dieses Statement untermauernde Tat folgen. Wohl auch, um die Scouts zu verwirren, die sich für seine Person interessieren, denn das er gern bei uns bleiben würde, hat er ja gesagt. Nur müsste es, ganz klar, auch Grundlagen dafür geben. Der Klassenerhalt wäre da bestimmt schon mal ein Pluspunkt. Der Ball fliegt jedenfalls hoch über das Tor hinweg. Foul, gelbe Karte und Torschuss habe ich eingefangen, wenigstens etwas Zählbares wird bleiben. Rintaro macht sonst aber ein großes Spiel, wie ein Derwisch wirbelt er im Mittelfeld, zermürbt den Gegner, spielt ihn manchmal sogar schwindlig. Für mich ist heute aber Pierre Merkel eindeutig the man of the match. Weil er die Bude gemacht hat. Punkt.



Dass der BFC hier nicht gekommen ist, um das Spiel vor 800 mitgeristen Fans abzuschenken, macht der Trainer zum Anpfiff der zweiten Halbzeit klar: Mit David Haider Kamm Al-Azzawe und Otis Breustedt komen für die Jungspunde Solomon Ndubuisi Okoronkwo und Ugurtan Cepni gleich zu Beginn zwei neue, durchaus namhafte Stammkräfte auf das Feld, die den Unterschied ausmachen können. Trotzdem bleibt Chemie über weite Strecken spielbestimmend und lässt im Grunde nichts anbrennen. Im Versemmeln der eigenen Chancen bleiben wir uns jedoch treu. Unser eingewechselter Stürmer Brandon Stelmak hat (zur Freude seines Össi-Torgauer Beraters Helmut) in der 83. Minute dann auch noch seine Riesenchance, macht sie aber nicht rein. In der 89. Minute setzt unser alle Herzschlag dann nochmal aus: Ecke für den BFC. Wir sind immer gut für ein spätes Gegentor, sage ich zu Jens neben mir. Fotografisch schlafe ich jedoch, da unterscheide ich mich nicht groß von unserer Mannschaft, die ebenfalls träumt. Ich fange den Moment nicht ein, wie unsere Abwehrspieler nicht den Ball. Rums, Kopfball, rechte Ecke. Die Befis jubeln, und brechen dann ab. Der Schiedsrichter hat ein Einsehen. Das bessere, meine ich: Einer unserer Spieler ist gefallen, es wird auf Stürmerfoul entschieden. Meine Nerven! Dann ist es geschafft. Den Viking-Clap mache ich noch mit, teils als klatschender Fan, teils an knipsender Reporter. Dann geht es mit dem Rad in die Spinnerei, zum Rundgang.



Sicher war das heute nun auch wieder keine glorisose offensive Glanzleistung von uns. Sicher haben wir wiederum beinah alle möglichen Chancen und Großchancen vergeben. Wieder haben wir es nicht verstanden, rechtzeitig das Spiel für uns zu entscheidenden. Darum mussten wir wieder endlos bangen bis zum Schlusspfiff, und beinah wären zwei Punkte verloren gewesen. Trotzdem tritt die Mannschaft immer mehr als Einheit auf, es wird immer besser. Unsere Rückrunde wäre normaler Weise eine einzige Quelle der Freude, wenn der durch die Hinrunde bedingte Tabellenplatz als Abstiegskandidat nicht wäre. Und ohne die Gegebenheiten bei Erfurt und Chemnitz, für die wir rein gar nichts können, müssten wir uns kaum noch Sorgen machen. Es ist, wie es ist. Am kommenden Donnerstag, also, wie man so schön sagt: unter der Woche, geht es für uns nach Berlin, zum Spiel gegen VSG Altglienicke. Auch da müssen wir gegen diesen direkten Abstiegskontrahenten unbedingt gewinnen. So, wie Pierre Merkel immer besser in Form kommt, bin ich guter Dinge dafür, auch wenn ich nicht vor Ort sein werde. Ich weiß nicht, warum mir da nun wieder die Kanzlerin einfällt. Ach ja: Wir schaffen das!
Dann wird es wieder durch Berlin hallen und schallen: Chemie, Chemie, nur noch Chemie!
All words and pictures by Fritz Rainer Polter